Ein ganzes Leben

Das ist August Zirner

AUGUST ZIRNER Foto: ©Tobis

„Das Schlimmste ist, wenn ein Regisseur ‚super‘ sagt“, findet August Zirner. „Der Subtext ist: Ich habe wenig Zeit, war okay so, nehmen wir.“ Trotzdem sagen wir: Super, wie Zirner den alten, knorrigen Andreas Egger in EIN GANZES LEBEN spielt.

„Wo soll’s hingehen?“, fragt der Busfahrer. „Bis zur Endstation“, sagt Andreas Egger. „Weiter geht’s ja nicht.“ In diesem Schlüsselsatz ist die ganze Geschichte von EIN GANZES LEBEN konzentriert. Und niemand könnte die Schicksalsergebenheit des alten Mannes hier besser verkörpern als August Zirner. Die Gesichtszüge gegerbt von Jahrzehnten harter Arbeit, die Stimme weich, ein wenig resigniert, aber auch ungebrochen von den Hieben, die das Schicksal ihm zugefügt hat. Einer, der nicht mehr viel erwartet, aber trotzdem schaut, welche Überraschungen das Leben noch für ihn bereithält. Und sei es nur eine Busfahrt.

 

August Zirner
EIN GANZES LEBEN, Rechte bei Tobis

„Auf den ersten Blick ist er ein Jedermann, oft sieht er nach bravem Bildungsbürger aus – aber eben nur auf den ersten Blick,“ schrieb die Berliner Zeitung. Und entdeckte dann in August Zirners Rollen „immer wieder ein zweites Gesicht, eine erschreckende Hintergründigkeit.“ Zirner sei der „wohl unbekannteste bekannteste Schauspieler im deutschen Fernsehen.“ 

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Dem wäre einiges hinzuzufügen. Zum Beispiel die Theater- und Leinwandproduktionen, die Zirner mit Regiegrößen wie Luc Bondy, Peter Stein, Volker Schlöndorff oder Margarethe von Trotta gespielt hat. Aber es stimmt schon: In den mehr als 120 Produktionen seiner bisherigen Filmografie finden sich viele Nebenrollen, bei denen er aus der zweiten Reihe strahlte, ohne die erste in Bedrängnis zu bringen. Ein Ensemble- und Teamplayer mit feinfühliger Präsenz und stets wohltemperierter Tonlage, der immer ein kleines Rätsel offenlässt. Mit anderen Worten: das Unbekannte im vermeintlich Bekannten zeigt.

 

Aber schauen wir zunächst auf seinen ungewöhnlichen Lebensweg. August Zirner kam 1956 im wenig bekannten Urbana, US-Bundesstaat Illinois, zur Welt, wo sein Vater die Opernabteilung der Universität leitete. Die Eltern, jüdischen Glaubens, waren 1939 emigriert. Die Zirners hatten einst in Wien ein renommiertes Bekleidungsgeschäft in der Kärntner Straße geführt, aber Österreich nach der Enteignung durch die Nazis verlassen. Gemeinsam mit seiner Tochter Ana, die als Regisseurin arbeitet, hat August Zirner die Familiengeschichte von Entwurzelung, Flucht und Überleben aufgeschrieben („Laura und Ella“, Piper Verlag, 2021). August Zirner ist mit der Schauspielerin Katalin Zsigmondy verheiratet. Sie haben vier Kinder und leben am Chiemsee. Einer der Söhne – Johannes Zirner, geboren 1979 – ist ebenfalls Schauspieler.

„Ich bin in einem Elfenbeinturm aufgewachsen.“

Über seine eigene Kindheit sagte Zirner der Süddeutschen Zeitung:

„Ich bin arglos, beschützt in einem Elfenbeinturm aufgewachsen, im wahrsten Sinne des Wortes: an einer Universität in Illinois. Da waren Emigranten aus ganz Europa, Wissenschaftler, Musiker, Physiker wie Heinz von Foerster. Es war eine absolut liberale Gesellschaft (und wir reden von den späten Sechzigerjahren). Homosexualität war normal. Es gab zum Beispiel einen bekannten Architektur-Professor, der homosexuell war und in einem wunderschönen Haus wohnte. Ästhetik spielte eine Riesenrolle, die Homosexualität überhaupt nicht. Es gab Frauen in starken Positionen an der Universität, einfach weil sie die besseren Professoren in ihrem Fach waren. Ich dachte bis vor ungefähr fünf Jahren, so wäre Amerika. Ein Land der Liberalität und der Gleichberechtigung, in dem kommuniziert und unkategorisch gedacht wird.“

Doch nach der High School wird Anfang der 1970er Jahre die Sehnsucht nach Europa größer. August Zirner beginnt eine Schauspielausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Das dortige Volkstheater, das Theater in der Josefstadt und schließlich die Münchner Kammerspiele waren Stationen, an denen er sein Spiel zu jener Reife verfeinerte, die viele Regisseur:innen an ihm schätzen.

„Mich interessiert in der Arbeit mit einem Regisseur oder einer Regisseurin die Auseinandersetzung. Das Schlimmste ist, und das passiert sehr häufig, wenn ein Regisseur ‚super‘ sagt. Der Subtext ist: Ich habe wenig Zeit, war okay so, nehmen wir.“

Heimat: Heimweh. Konfession: Musik.

Ursprünglich hatte er Psychiater werden wollen, sagte er der Schwäbischen Zeitung.

„Ich wollte etwas über den Menschen herausfinden. Da war ich 16 oder 17. Dann habe ich jemanden auf der Bühne gesehen und fand das auch toll. Auf der Bühne immer wieder andere Figuren zu spielen, ist ja aktive Psychologie.“

Für ihn sei Schauspielerei so etwas wie praktizierte Empathie.

„Jetzt, nach 40 Berufsjahren, merke ich, dass der Beruf mir wirklich gut tut. Er fordert mich heraus und bringt mich an geografische und seelische Orte, an denen ich etwas lernen kann. Deshalb hat der Schauspielberuf für mich persönlich eine therapeutische Komponente.“ 

 

August Zirner
EIN GANZES LEBEN, Rechte bei Tobis

Und dann wäre da noch eine wirkliche zweite Seite des August Zirner. Im Autorensteckbrief seines Verlags heißt es unter anderem: „Heimat: Heimweh. Konfession: Musik.“ 

Natürlich hielt August Zirner als Kind einer musikalischen Familie schon früh eine Flöte in Händen. Doch richtig los ging es mit 15, als er zum ersten Mal Jethro Tull hörte. Und bis heute spielt er nicht nur Rollen wie den Preußenkönig Friedrich II. perfekt bis in die letzte Note, sondern auch Konzerte und Alben mit diversen Bands. Legendär ist dieser Auftritt bei Harald Schmidt, bei dem Zirner ebenso offen über Jähzorn-Attacken – die kein Außenstehender vermutet hätte – wie über seine musikalischen Wurzeln spricht:

 

„Ich kann mich nicht erinnern, wo ich hergekommen bin. Und ich weiß auch nicht, wo ich hingehe. Aber dazwischen denke ich an das, was war und an das, was hätte sein können.“

Diese inneren Monologe in Briefform ziehen sich durch „Ein ganzes Leben“, schon ehe er selbst die Hauptfigur Andreas Egger im 60. Lebensjahr übernimmt. Zirners Stimme ist erprobt in der Vertonung von Literatur. Wer einmal einen schönen Tag mit dem „Kleinen Prinzen“ verbringen oder François Lelords „Hector“ auf seinen Reisen begleiten möchte, findet dies zum Beispiel in der beeindruckenden Hörbuchliste bei Audible oder Spotify.

Über eine tatsächliche Therapie sprach Zirner mit der ZEIT.

„Ich habe zwei Therapeuten verbraucht, bis ich den gefunden habe, der mir die richtigen Fragen gestellt hat. Ich bin gut darin, Leute zu bezirzen und glauben zu lassen, mit mir sei alles in Ordnung. Mein erster Therapeut fand mich völlig in Ordnung, obwohl ich es nicht war. [...] Der Mensch ist ein komplexes Wesen, unvollkommen werden wir auf die Welt geschmissen. Und Therapeuten helfen, Selbsthilfe zu lernen.“ 

Diese herzwärmende Bescheidenheit ist es, die August Zirner so authentisch in jede seiner Rollen einfließen lässt – und uns beim alten Egger in EIN GANZES LEBEN jede Falte im Gesicht glauben lässt.

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Autor/-in: A. Smithee

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