MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG

Der Frühling des italienischen Kinos

Das italienische Kino lebt. Und wie! Es gibt keinen stärkeren Beweis dafür als Paola Cortellesis Regiedebüt MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG, das in Italien vor allen Hollywood-Blockbustern zum erfolgreichsten Film des letzten Jahres wurde. 

Italien ist von jeher eine große Filmnation. Regisseure wie Antonioni, Visconti, Bertolucci oder Fellini stehen für Meilensteine der Filmgeschichte. Die klassischen Vorbilder haben die jüngere Generation ermutigt, längst ihre eigene, moderne Sprache zu finden. Nicht nur an der Kinokasse, auch künstlerisch hat sich im 21. Jahrhundert viel getan, wie Paola Cortellesi mit MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG eindrucksvoll zeigt. Diese Filmperle gibt es übrigens jetzt auch für Zuhause:

Im folgenden Artikel spazieren wir mit einer aktuellen Werkschau der besten Filme durch den neuen Frühling des italienischen Kinos.

PLATZ #9: DER TIGER UND DER SCHNEE (2005) 

Jeder Rundgang durch das italienische Kino wäre unvollständig ohne Roberto Benigni. Stellvertretend für das mehr als fünf Jahrzehnte umfassende Lebenswerk des großen Schauspielers und Regisseurs, wollen wir DER TIGER UND DER SCHNEE nennen, eine Komödie, die er selbst schrieb und inszenierte. Die weibliche Hauptrolle ebenso wie die Produktion übernahm, wie häufig, seine Ehefrau Nicoletta Braschi. In weiteren Rollen: Jean Reno und Tom Waits, ein auch musikalischer Weggefährte seit den Tagen von Jim Jarmuschs DOWN BY LAW (1986).

 

Die romantische Komödie spielt im Frühjahr 2003 in Rom und im kriegsversehrten Irak und wird als doppeldeutiger Traum erzählt. Attilio de Giovanni (Roberto Benigni) ist ein geistreicher Literaturprofessor, der hoffnungslos in die Autorin Vittoria (Nicoletta Braschi) verliebt ist. Sie erhört sein eifriges Werben jedoch nicht. Als sie nach Bagdad reist, um die Biografie eines irakischen Dichters zu schreiben, erkrankt sie schwer und Attillio eilt zu ihr … 

IMDb-Wertung: 7,0

PLATZ #8: MÄNNER AL DENTE (2010) 

Ferzan Özpetek, geboren 1959 in Istanbul, kam Ende der Siebziger als Journalist nach Rom, studierte jedoch alsbald Kunst, Film und Kostümbild und arbeitete dann am Theater, bei Film- und Fernsehproduktionen. Seinen Durchbruch als Regisseur hatte er 1997 mit HAMAM – DAS TÜRKISCHE BAD. Heute gelten seine Filme in Italien als Inbegriff der queeren Komödie. 

 

Der in Rom lebende Tommaso besucht seine Familie in der Provinz, die dort eine Pasta-Fabrik betreibt. Er hat vor, sich bei dem Besuch als homosexuell zu outen. Sein älterer Bruder Antonio kommt ihm jedoch unerwartet zuvor. Ihr traditionsbewusster Vater erleidet nach Antonios Geständnis einen Herzinfarkt und verstößt ihn aus der Familie. Nun wagt es Tommaso nicht mehr, sich der Familie zu offenbaren, und fügt sich in die Rolle des „normalen“ Sohns und Fabrikantenerben. Zunächst …

IMDb-Wertung: 7,2

PLATZ #7: VENEZIANISCHE FREUNDSCHAFT (2011)

Shun Li (Tao Zhao) hat auf der Suche nach einem besseren Leben ihren achtjährigen Sohn in China zurückgelassen. Ihr Chef in der Textilfabrik „leiht“ sie an einen Subunternehmer in Venedig aus. Dort soll sie für einen unbestimmten Zeitraum ihre „Schulden“ abarbeiten. Im touristenverlassenen Venedig lernt sie Bepi (Rade Šerbedžija) kennen, der vor 30 Jahren aus Kroatien eingewandert ist. Die Beziehung der beiden stößt auf Widerstand. Schließlich werden sie getrennt, als Shun Li an einen anderen Arbeitsort verschickt wird …

 

Andrea Segre (Buch und Regie) gelingt eine leise berührende und realistische Geschichte, die gleichzeitig „auch kleine, tief berührende Wunder und anonyme Wohltaten“ (kino.de) erlaubt und „große Themen ganz unaufdringlich und wie nebenbei verhandelt: Menschenhandel und Fremdenfeindlichkeit, Einsamkeit und Identitätssuche.“ (3sat). Focus lobt „eine wunderbar poetische Erzählung über die Macht der Freundschaft.“

IMDb-Wertung: 7,2

PLATZ #6: DIE SÜSSE GIER (2013)

Autor und Regisseur Paolo Virzi ist in Italien schon lange ein Begriff für Komödien mit einer dunklen Note. In DIE SÜSSE GIER hat er allerdings die Tonlage eines sarkastischen Thrillers gewählt. Thema: die italienische Oberschicht und ihre Gier nach Geld. Im Zentrum steht ein Unfall, bei dem ein Radfahrer von einem Geländewagen abgedrängt wird und im Straßengraben stirbt. Wird der unfallflüchtige Fahrer des Wagens am Ende gestellt? 

 

Der Spiegel lobte das „Klassenkampfdrama, in dem weder an Klischees noch an Gemeinheiten gespart wird“ und konnte verständlicherweise nicht leugnen, dass einem die beiden überragenden Hauptdarstellerinnen Matilde Gioli und Valeria Bruni Tedeschi „ans Herz wachsen“. The Village Voice war begeistert von einem „schonungslosen Portrait über Habgier und familiäre Selbstzerstörung." 

IMDb-Wertung: 7,2

PLATZ #5: BROT UND TULPEN (2000)

Stell dir vor, du bist auf einem Familienausflug, machst eine kleine Pause an der Raststätte, und plötzlich fährt der Bus ohne dich weiter. So widerfährt es Rosalba (Licia Maglietta), der Protagonistin von BROT UND TULPEN. Doch statt in Panik zu geraten, nutzt Rosalba die Gelegenheit für ein spontanes Abenteuer und trampt nach Venedig, weil … warum nicht? 

 

Regisseur Silvio Soldini lässt seine Heldin den blauen Himmel des „Was wäre, wenn…?“ erkunden. Sie findet in Venedig nicht nur neue Freunde und einen Job in einem Blumenladen, sondern auch eine Romanze mit einem isländischen Kellner (Bruno Ganz), der italienisch mit einem charmanten Akzent spricht. Währenddessen versucht ihr Ehemann, sie mit Hilfe eines Privatdetektivs nach Hause zurückzuholen. Aber auch der verliebt sich ungeplant. Eine herzerwärmende Komödie über Selbstfindung und die Freuden des Lebens, die zeigt, dass zurückgelassen zu werden manchmal das Beste ist, was einem passieren kann.

IMDb-Wertung: 7,3

PLATZ #4: SUBURRA – 7 TAGE BIS ZUR APOKALYPSE (2015)

Regisseur und Drehbuchautor Stefano Sollima hat mit seiner Serie GOMORRHA nach Motiven von Roberto Saviano das Genre des Mafia-Films neu definiert. In SUBURRA – nicht zu verwechseln mit der daran angelehnten, als Prequel konzipierten Netflix-Serie – perfektionierte Sollima seine düstere Neo-Noir-Bildsprache, die das Genre bis heute prägt. 

 

Die 7 TAGE BIS ZUR APOKALYPSE sind die Tage vor dem Rücktritt der Regierung Berlusconi im November 2011. Politiker, Gangster und Würdenträger des Vatikans sind in einen Strudel aus Korruption, Machtstreben, Verrat und Mord verwickelt. Eigentlich ein für alle Beteiligten gemütliches Biotop. Bis eine minderjährige Prostituierte stirbt …

IMDb-Wertung: 7,4

PLATZ #3: GLÜCKLICH WIE LAZZARO (2018)

Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher beherrscht die Sprache des Einfachen. Das Rascheln von Blättern im Wind, der Staub der Straße, die Falten in den verschwitzen Gesichtern alter Männer – sie sind in ihren Filmen derart authentisch, als stünde man direkt davor. So auch in diesem zweiten Teil von Rohrwachers Trilogie über das Landleben in Italien.

 

GLÜCKLICH WIE LAZZARO bringt uns zusammen mit einem in sklavenähnlichen Verhältnissen arbeitenden jungen Landarbeiter, der mit seiner bedingungslosen, keine Gegenleistung verlangenden Hingabe alle sprachlos macht. Auch wenn sein Heimatdorf nur wenige Einwohner hat, weiß Lazzaro nicht, wer von diesen Menschen seine Eltern sind. Lazzaro wird gespielt von dem Laiendarsteller Adriano Tardiolo. Er verleiht der Figur eine magische, beinahe heilige Aura, ebenso Rohrwachers Schwester Alba in der Rolle der Antonia. „Ein betörender Traum von Film“ schwelgte der Guardian, und The Hollywood Reporter befand: „italienisch bis in Herz“.

IMDb-Wertung: 7,5

PLATZ #2: LA GRANDE BELLEZZA – DIE GROSSE SCHÖNHEIT (2013)

Paolo Sorrentino (Regie und Buch) schrieb sich mit diesem Meisterwerk ein eigenes Kapitel in den Annalen des italienischen Kinos. Seine Figur des alternden Kulturjournalisten Jep (Toni Servillo) gemahnt an Marcello Mastroianni in Fellinis LA DOLCE VITA (1960), ohne ihn jedoch auch nur ansatzweise zu kopieren. Gemeinsam ist beiden Figuren lediglich die innere Leere, die sie angesichts des tosenden gesellschaftlichen Lebens empfinden. 

 

Jep hat in jungen Jahren einen preisgekrönten Roman veröffentlicht, aber er schrieb keinen weiteren mehr und verbrachte sein Leben stattdessen auf Partys und in der Gesellschaft schöner Frauen. Doch mit dem Tod seiner Jugendliebe beginnt er, sein Leben zu hinterfragen und sucht nach einem tieferen Sinn. Paolo Sorrentino erschafft luxuriöse Bilder wie Gemälde, das gilt auch für seine weiteren Meisterwerke wie EWIGE JUGEND (2015), die Serie THE YOUNG POPE (2016) oder auch sein autobiographisches Werk DIE HAND GOTTES (2021).

IMDb-Wertung: 7,7

PLATZ #1: CALL ME BY YOUR NAME (2017) 

Regisseur Luca Guadagnino ist ein Meister der Beobachtung, und er versteht es meisterlich, uns das Gefühl zu geben, ebenfalls Beobachter zu sein, manchmal beinahe detektivisch wie in I AM LOVE (2009), wo seine Muse Tilda Swinton eine Ehefrau in der italienische Upper Class spielt, die ihr arriviertes Leben verlässt, weil sie sich in einen Freund ihres Sohnes verliebt. Oder in A BIGGER SPLASH (2015), wo Swinton eine zum Schweigen verdammte Rocksängerin spielt, deren ehemaliger Lover, Manager und Koks-Buddy (Ralph Fiennes) unangekündigt beim Familienurlaub auf der Insel Pantelleria aufkreuzt. Für CALL ME BY YOUR NAME nimmt er uns mit in die Hitze eines italienischen Sommers Anfang der 1980er Jahre.

 

Der junge Elio (Timothée Chalamet), Sohn eines Archäologie-Professors, verliebt sich in Oliver (Armie Hammer), einen Doktoranden seines Vaters. Obwohl beide auch heterosexuellen Aktivitäten nachgehen, wird ihre Anziehung nahezu übermächtig. Luca Guadagnino erzählt hier unmittelbar und ungeschminkt vom erwachenden Begehren, in aller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Ein Film, dessen flirrende Sehnsucht lange nachhallt. 

IMDb-Wertung: 7,8

Liebe überwindet alles. Aber manchmal geht es leichter mit Verbündeten. So auch in Paola Cortellesis MORGEN IST AUCH NOCH EIN TAG, das von der leichten, geradezu beiläufigen weiblichen Solidarität angesichts der Übermacht des Patriachats im Italien der 1940er Jahre erzählt.

 

Autor/-in: A. Smithee