Der neue Film IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT zeigt eine bis dato nahezu unbekannte Seite der DDR: die pulsierende Modeszene – und wenn man von Mode in der DDR, von Exquisit und Sibylle, spricht, dann muss man auch von (und mit) Grit Seymour sprechen.
Am Abend vor dem Gespräch kam Grit Seymour in einem Kleid von Exquisit zur Buchpremiere. Der Lehmstedt Verlag hatte eine neue Edition mit Arbeiten des Fotografen Roger Melis vorgestellt, betitelt mit „Modefotografie 1967 - 1990“, ganz nebenbei auch eine starke Klammer zwischen Exquisit und Sibylle. Das Kleid aus dem Fundus der Mitherausgeberin Ulrike Vogt passt Grit Seymour noch wie eine zweite Haut. Das spricht – natürlich in erster (Körper-)Linie – für sie selbst, zugleich aber für das Kleidungsstück, also die oft zitierte Langlebigkeit vieler Produkte der DDR-Nobelmarke.Und dann gibt es da noch eine ganz entscheidende Fußnote: Es war jene Ulrike Vogt, der Grit Seymour die Initialzündung zu verdanken hat, um dorthin zu kommen, wo sie heute ist.
Geboren wurde die 56-Jährige in Halle an der Saale. Die Mutter war Ärztin, ein Medizinstudium auch für die Tochter fest im Visier. Hätte es da nicht dieses sehr andere zweite Herz in Grit Seymours Brust gegeben, das sich immer wieder mal, heftig pochend, bei ihr zu melden wusste. Sie spricht heute darüber mit einem besonders offenen Lächeln:
„Ich wusste wahrscheinlich schon mit drei Jahren, dass ich in die Mode gehen werde. Mode war präsent für mich, meine Mutter war eine stets elegant gekleidete Frau, die sich Sachen nähen ließ und sie war eine der Glücklichen, die ein Abo für die Sibylle hatte. Ich fieberte jeder neuen Ausgabe entgegen. Mit zwölf bekam ich dann die Singer-Tretnähmaschine von meiner Oma und sie war es auch, die mir Häkeln, Stopfen und Stricken beigebracht hat.“
Wäre nicht Exquisit-Designerin Ulrike Vogt gewesen, hätte Deutschland heute wohl eine Ärztin mehr und keine erfolgreiche Professorin für Modedesign mit internationaler Karriere. Erst Vogt klärte die jugendliche Grit darüber auf, dass es in der DDR sehr wohl klappen könnte, Modedesign zu studieren. Beim Blick auf die Kleidung von Menschen der Straße hätte die junge Frau bis dahin gar nicht geglaubt, dass Design überhaupt existiert, geschweige denn als Studienfach zu wählen wäre …
Von da ab, wir sind in der Mitte der Achtzigerjahre, gibt es kein Halten mehr. Dem Schock der Mutter darüber, dass ihre Tochter gänzlich andere Pfade sucht, um sich zu finden, folgt die uneingeschränkte Unterstützung. Beide fahren an die Kunsthochschule nach Berlin-Weißensee, um eine Modenschau zu sehen. Der Zufall (oder eben die Folgerichtigkeit) war schon vor Ort. Eines der Mannequins fällt aus, Grit wird spontan angesprochen, springt ein – und ist „plötzlich mittendrin in der Szene mit all den Fotografen und Redakteuren, die etwas zu sagen hatten. Ab da kamen dann die Telegramme mit Anfragen.“ Es war eine Szene, die Begehrlichkeiten und Phantasien produzierte, schließlich arbeitete man für den Zenit der DDR-Mode.
Eine Welt, die wenig mit der Alltagsrealität zu tun hatte. Es war aber auch der Kompass für Grit Seymours Wunschweg: Abitur in Halle, dann Schneiderinnenlehre in Berlin bei Exquisit als Voraussetzung für das so sehnlich erwünschte Modedesignstudium. Parallel dazu gingen die Fotosessions und gemeinsamen Fahrten mit den anderen „quer eingestiegenen“ Teilzeit-Mannequins zu Messen und Schauen weiter, bei denen es gesetzt war, sich selbst zu frisieren und zu schminken und nicht nach der Höhe von Honoraren zu fragen. Dass die jungen Frauen privilegiert waren, auch im Gefühl gelebter Freiheit, war Grit Seymour bewusst. Dass es ganz schnell damit vorbei sein kann, vielleicht nicht so sehr.
Seymour engagierte sich schon in Halle als Schülerin in der Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, also gegen militärische Aufrüstung in Ost wie West. Sie nähte sich den „Schwerter“-Sticker auf den Parka und erlebte, wie Jugendliche abgeholt wurden und wenn nicht direkt, dann hörte sie von großflächigen Festnahmen und Abschiebungen in den Westen. Denn die Staatssicherheit, kein Wunder, beobachtete.
Grit Seymour, dann schon in Berlin, hält den Kontakt zu Freunden, die weg mussten. Ein Treff in Prag wird ihr zum Verhängnis. Auf der Rückreise wird sie – mit „böser“ Musik und ebenso wenig „gutem“ Gedruckten im Gepäck – aus dem Zug gefischt, wieder und wieder verhört, erpresst, zwischendrin vergeblich für Stasi und SED angeworben, dann aber als entscheidende Konsequenz zur Bewährung ans Band eines Großbetriebs geschickt und schließlich von der Hochschule geworfen.
„Meine Mutter war eher ängstlich, was ich heute, da ich selbst Mutter bin, viel besser verstehen kann. Aber ich wollte mir selbst treu sein, denn ich bin systemkritisch und mit dem Ansporn aufgewachsen, Dinge zu hinterfragen. Ich brauchte aber immer wieder all meinen Mut dafür.“
Im Herbst 1988 reist Grit Seymour vom Prenzlauer Berg in den Westen aus, um bei sich zu bleiben. Und nach vorn zu gehen: „Als Designerin muss man es zwangsläufig.“ Sie konnte endlich fertig studieren, ging nach London, New York, Paris, Tokio, traf Berühmte und Gleichgesinnte einer neuen Szene, wurde – wieder wie nebenbei – vom Mannequin zum Model für Versace & Co., designte für Labels wie Hugo Boss und Daniel Hechter, kehrte nach 14 Jahren wieder nach (Ost-)Berlin zurück, wo sich, wie Seymour sagt, die
„Kulturen auf besondere Weise mischen. Durch die Welt zu ziehen, war für mich stets beruflich motiviert. Doch dann kam der Moment, Kinder zu bekommen. Das konnte ich mir nur in Berlin vorstellen. Viele Freunde waren hier, die Familie, eine Umgebung, die ich kannte. In den vielen Jahren haben sich Beziehungen gehalten, weil das Vertrauen geblieben ist. Man hatte sich ja schon zu DDR-Zeiten gegenseitig ganz lange geprüft und wenn man sich entschieden hatte, sollte es für ein Leben reichen.“
Heute kuratiert Grit Seymour Ausstellungen und besetzt an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) eine Professur für Modedesign. Gemeinsam mit Studierenden hat sie für IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT die Kostüme für die finale Off-Show entworfen…
… und stand außerdem als Kostümberaterin zur Verfügung, als Korrektiv für die „historische Qualitätskontrolle” und auch für das, was man „look & feel” nennt. Kamen noch einmal persönliche Erinnerungen hoch?
„Ja! Ich musste mir erst einen Ruck geben mitzumachen. Es war heftig. Ich wusste nicht, ob ich diese Box meines Lebens wegen all der emotionalen Anknüpfungspunkte an meine Geschichte noch einmal würde öffnen wollen.”
Dass Grit Seymour es letztlich getan hat, hat dem Film am Ende geholfen.
Was im Besonderen ist geblieben von Grit Seymours Zeit im Land, das es nicht mehr gibt? Was von ihrer Sicht auf Exquisit, die Modedesignlandschaft, die prägenden Menschen beim Vorwärtskommen?
„Was ich damals erlebt habe, versuche ich auch heute zu initiieren, Teamarbeit zum Beispiel, was eine ziemliche Herausforderung ist, denn gerade in der Modeszene dominiert das Einzelgängertum. Wertvoll war auch der Austausch untereinander, die Neugier aufeinander, die Arbeitsethik und Dynamik in der Gruppe, die Offenheit und eine wie selbstverständlich gelebte Inklusion, was trotzdem nicht bedeutet, alles sei nur Friede, Freude, Eierkuchen gewesen. Wie in einer Familie eben …”
Als „charismatischen Gentlemen mit einer Menge Energie”, bezeichnet Grit Seymour den Exquisit-Motor Artur Winter. Er hätte etwas Weltmännisches und Internationales an sich gehabt, was als Grenzgänger, der er war, logisch erscheint. Seine eigene Motivation und Passion hätte er zugleich von den anderen erwartet. Könnte Winter heute auf Grit Seymour schauen, würde es mit Wohlwollen geschehen. Denn das, woran sie an der HTW noch bis Ende 2022 wissenschaftlich arbeitet, hätte ihn mehr als nur gefreut: eine Forschungspublikation zu Exquisit.
Es sei an der Zeit, sagt Grit Seymour. Jetzt, wo sich Vorurteile aufgeweicht hätten und die Blicke auf Details freigegeben seien.
Zu einer öffentlichen Veranstaltung mit einem orginalen Exquisit-Kleid zu erscheinen, ist fast schon ein Statement. Dem im Premierensaal sitzenden Publikum jedenfalls, darunter auch viele ehemalige Modegestalterinnen, trieb es etwas Glanz in die Augen. IN EINEM LAND, DAS ES NICHT MEHR GIBT, für dessen Kostüme Grit Seymour beratend tätig war, läuft jetzt im Kino.
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Autor: Andreas Körner