„Wehret den Anfängen!“ Wer sich je gefragt hat, wie es „damals“ so weit kommen konnte, muss sich heutzutage nur einmal umsehen. Weltweit ächzen Demokratien unter dem Rechtsruck und Populisten gehen auf Stimmenfang.
Die Mechanismen sind altbekannt: Angst schüren, ein gemeinsames Feindbild aufbauen, einfache Lösungen präsentieren. Auch das Kino hat sich immer wieder mit diesen gefährlichen Dynamiken beschäftigt. Der aktuellste Beitrag zu diesem Thema ist THE CHANGE vom Oscar®-nominierten Regisseur Jan Komasa, der erschreckend nah an unserer Realität ist. Er reiht sich ein in die besten Filme, die uns verstehen lassen, was Menschen dazu bewegt, sich zu radikalisieren. Und wie aus diesen Menschen Massen werden.
Die Klasse von Herrn Wenger (Jürgen Vogel) fragt sich, wie sich der Faschismus in Deutschland ausbreiten konnte und ist sich sicher: So etwas wie das Dritte Reich wird sich nie wiederholen. Also startet Herr Wenger ein soziales Experiment, das schnell aus dem Ruder läuft.
Dennis Gansels Jugenddrama zeigt eindrücklich, wie anfällig der Mensch für totalitäre Systeme ist. Das berauschende Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, schaltet Gehirn und Moralvorstellungen ab. DIE WELLE basiert auf dem Versuch „The Third Wave“, bei dem ein Lehrer in Kalifornien in den 70er Jahren seinen Schüler:innen zeigen wollte, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte. Er installierte ein totalitäres System, mit sich selbst als Führungsfigur. Nach fünf Tagen musste er bereits abbrechen, weil das Experiment gefährliche Ausmaße annahm.
Danny Balint (Ryan Gosling) ist ein wandelndes Paradoxon: Er trägt T-Shirts mit Hakenkreuz, zeigt den Hitlergruß – und ist Jude. Seinen fanatischen Antisemitismus lebt er gemeinsam mit anderen Neonazis aus und lässt sich in einem Camp militärisch ausbilden. Dann begegnet Danny einem Holocaust-Überlebenden …
Vorbild für den von Ryan Gosling unglaublich intensiv gespielten Hauptcharakter ist der Jude Daniel Burros, der Mitglied der American Nazi Party und des Ku Klux Klans war. Der Film ist ein eindringliches Psychogramm eines Mannes, der sich selbst hasst und zeigt den inneren Ursprung von Fanatismus am einzelnen Individuum, das von Selbstzweifeln zerfressen und auf der Suche nach einer Identität ist.
Auf der Suche nach seiner Identität ist auch Danny Vinyard (Edward Furlong). Sein Bruder Derek (Edward Norton) sitzt im Gefängnis, nachdem er zwei Schwarze getötet hat. Für seinen kleinen Bruder ist der Neonazi ein strahlender Held. Auch Danny, der aufgrund eines rassistischen Aufsatzes kurz vor einem Schulverweis steht, findet in der rechtsradikalen Szene Halt.
Die herausragende Leistung des Dramas besteht darin, die Beweggründe nachvollziehbar zu machen, die Menschen zu Nazis werden lassen, um dann auch die Möglichkeit des so schwierigen und gefährlichen Ausstiegs aus der Szene zu zeigen. Cinema bringt es auf den Punkt:
„Was der Film schafft, ist nahezu ein Wunder – die komplette ideologische Umkehrung jener Werte, die er in der ersten halben Stunde aufgebaut hat.“
Für seine Rolle als brutaler Nazi, der im Gefängnis beginnt, seine Ideologie zu hinterfragen, wurde Edward Norton bei der Oscar®-Verleihung als bester Hauptdarsteller nominiert.
„Komm zum Circle und entfalte dein volles Potenzial! Wir machen die Welt zu einem besseren Ort!“ Klingt gut, denkt sich die ehrgeizige Mae (Emma Watson) und tritt ihren Job bei dem Tech-Giganten an. Als sie erfährt, dass ihr Arbeitgeber Eamon Bailey (Tom Hanks) praktisch die ganze Weltbevölkerung überwachen will, kommen ihr erste Zweifel.
Auch abseits politischer Ideologien lauern Gefahren, die unsere moderne Gesellschaft bedrohen. In Zeiten von Datensammelwut und Oversharing scheinen totale Überwachung und Aufgabe jeglicher Privatsphäre nur noch eine Frage der Zeit zu sein. THE CIRCLE zeigt, wo wir enden, wenn wir dem Social Media-Kult weiterhin blind huldigen: in einer neuen Form von digitalem Totalitarismus mit einem fanatischen Silicon-Valley-Bro an der Spitze. Der ist mit dem charismatischen Tom Hanks clever besetzt.
Dr. Mindy (Leonardo DiCaprio) und seine Doktorandin Kate (Jennifer Lawrence) informieren die US-Präsidentin (Meryl Streep) über eine schreckliche Entdeckung: In sechs Monaten wird ein Komet die Erde zerstören. Wird sie die besten Wissenschaftler:innen mit Lösungen beauftragen? Ein Abwehrprogramm entwickeln? Nein! Erstmal abwarten. Schließlich stehen Wahlen an. Außerdem ist der Komet voller wertvoller Rohstoffe. Selbst, als die Öffentlichkeit von der drohenden Gefahr erfährt, fallen die Reaktionen anders aus, als der gesunde Menschenverstand es nahelegt.
Wie dumm kann die Menschheit sein? „Ja!“ lautet die Antwort dieser bissigen und leider allzu wahren schwarzen Komödie, die die schmerzhaften Folgen von Propaganda in Unterhaltung verpackt, bei der einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt. Adam McKay fängt die Faktenfeindlichkeit, Geldgier und Ignoranz der heutigen Gesellschaft perfekt ein. Klimawandel? Eine Erfindung. Corona? Bloß eine leichte Grippe. Ein Komet fliegt auf die Erde zu? Einfach nicht hingucken! Dafür gab’s Oscar®-Nominierungen in den Kategorien Bester Film, Bester Schnitt, Beste Filmmusik und Bestes Originaldrehbuch.
Schwarzhumorig kommt auch Taika Waititis JOJO RABBIT daher: Der kleine Johannes „Jojo“ Betzler (Roman Griffin Davis) ist begeisterter Hitlerjunge. Sein treuer Begleiter ist Adolf Hitler (Waititi), der dem ängstlichen Zehnjährigen als imaginärer Fantasiefreund zur Seite steht, wenn Jojo zu viel Mitgefühl zeigt oder mal wieder beim Granatenwerfen versagt. Als Jojo in seiner Wohnung ein verstecktes jüdisches Mädchen entdeckt, gerät sein Weltbild ins Wanken. Sind Juden vielleicht ganz normale Menschen?
Waititi schaut aus der kindlichen Perspektive auf die Absurdität ideologischer Verblendung. Das brutale Erziehungslager der Hitlerjugend ist eine Art abenteuerliches Ferienlager, mit allem, was dazu gehört: Tierquälerei, Bücherverbrennung und Ausbildung an der Waffe. Was man als anständiger kleiner Nazi und Kindersoldat eben so lernen muss. Selten wurde die vom Nationalsozialismus betriebene Entmenschlichung und totale Indoktrination, die selbst die Kleinsten der Gesellschaft erreichte, so klug entlarvt.
Wir haben die Endstufe erreicht: Alles ist Propaganda, Individuen und Meinungen sind ausgelöscht. In dieser, jeglicher Freiheit und Freude beraubten Welt, die sich im permanenten Kriegszustand befindet, lebt Winston Smith (John Hurt). Er arbeitet im Ministerium für Wahrheit, das sämtliche Informationen kontrolliert. Doch langsam kommen ihm Zweifel an dem System, das jeden Gedanken kontrolliert und sogar „Gedankenverbrechen“ unter Strafe stellt. Verbündete findet er in seinen Parteigenoss:innen O’Brien (Richard Burton) und Julia (Suzanna Hamilton).
Die Verfilmung von George Orwells Roman ist ein zeitloses Meisterwerk, das uns die zerstörerische Macht von Ideologie und Meinungskontrolle fast schon am eigenen Körper spüren lässt. Die Partei im Film verkörpert den ultimativen politischen Fanatismus, in dem Wahrheit, Moral und Empathie nur Werkzeuge der Herrschaft sind. Propaganda wird nicht mehr als Lüge erkannt, sondern als einzige Realität gelebt, in der Sprache zur Waffe geworden ist: Wer keine Worte für Freiheit hat, kann sie auch nicht denken.
In 1984 war er noch ein Rädchen im System, in dieser Dystopie ist John Hurt selbst zu einer Art großem Bruder geworden, der in Großbritannien eine Diktatur nach altbewährtem Rezept errichtet hat: Sein Konterfei predigt von riesigen Bildschirmen über das ganze Land die immer gleiche Botschaft, die die Bevölkerung in Angst und Gefolgschaft zwingt. Als die junge Evey (Natalie Portman) ins Visier der Partei gerät, erwartet sie eine drakonische Strafe. Folter und Gefängnis nehmen ihr jedoch nicht etwa den eigenen Willen, sondern die Angst. Sie schließt sich dem Widerstand, angeführt durch den mysteriösen V (Hugo Weaving) an.
Selten sah moderner Faschismus im Kino so gut aus. James McTeigue und die Wachowski-Geschwister kreierten eine düstere Comicverfilmung mit rasanten Actionsequenzen und bis zur Perfektion stilisierten Bildkompositionen, die eines ganz deutlich macht: Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Tatsächlich hatte der Film reale Konsequenzen, denn die von V getragene Guy-Fawkes-Maske wurde zum modernen Symbol für den Widerstand und wird von Aktivist:innen und Hackergruppen wie Anonymous und Protestierenden weltweit getragen.
Ein schöner Garten, in dem Bienen umher summen und Kinder spielen. Es gibt sogar einen Pool. Die Familie Höß lebt ein beschauliches Leben. Nur die besonders hohen und mit Stacheldraht bewehrten Betonmauern lösen eine gewisse Beklemmung aus. Denn Familie Höß lebt am Rande des Konzentrationslagers Auschwitz. Wenn Hedwig Höß (Sandra Hüller) einen neuen Pelzmantel anprobiert oder sich aus einem Haufen seidener Wäsche die besten Stücke aussucht, weiß man, woher diese kommen: Von den Menschen, die auf der anderen Seite des Zauns täglich zu tausenden durch Schornsteine in den Himmel gejagt werden. Sie kehren als Asche auf die Erde zurück. Eine leise Erinnerung an die unvorstellbaren Verbrechen, die Rudolf Höß (Christial Friedel) plant und organisiert.
Es ist widerwärtig, wie diese deutsche Bilderbuchfamilie ihren Alltag am Rande unvorstellbaren Leids lebt. Ihr Nachbar ist der Tod, beauftragt und geplant vom Familienvater, der in seiner Freizeit gerne mit seinen Kindern spielt. Die gequälten Schreie der Gefangenen, Schüsse, der Qualm sind selbst für Hedwigs Mutter, überzeugte Nationalsozialistin, so unerträglich, dass sie die Flucht aus dem „Paradies“, wie ihre Tochter diese Insel inmitten einer Todeszone nennt, ergreift. Kaum ein Film hat Hannah Arendts Gedanke von der Banalität des Bösen so radikal in Bild und Ton übersetzt wie THE ZONE OF INTEREST.
In THE CHANGE muss nun Diane Lane erleben, wie eine politische Idee zuerst ihre Familie spaltet und dann ein ganzes Land: Ihre Schwiegertochter (gespielt von BRIDGERTON-Star Phoebe Dynevor) wird zur Anführerin einer radikalen Bewegung, die ihren Sohn (Dylan O’Brien) in den Bann zieht und sich dann wie ein Lauffeuer in den USA verbreitet. Der Thriller von Jan Komasa leistet dabei, was noch kein Kinofilm zuvor geschafft hat: Er zeigt am Beispiel einer ganz normalen Familie, wie sich der schrittweise Abbau der Demokratie anfühlt und wie es ist, schließlich in einem totalitären System, in dem Wahrheit, Moral und Menschlichkeit keinen Platz mehr haben.
THE CHANGE startet am 6. November im Kino.
Autor/-in: J.Leipnitz
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