Als Kind war er sehbehindert. Vielleicht hat das Robert Seethaler dazu gebracht, Bilder und Geschichten in seiner Innenwelt zu suchen. Eine ganz besondere läuft aktuell mit der Verfilmung seines Romans „Ein ganzes Leben“ im Kino.
Wie entsteht ein Buch? Was inspiriert Schriftstellerinnen und Schriftsteller? Woher kommen die Ideen? Fragen, die man häufig bei Lesungen oder Autorengesprächen hört. Viele Schreibende antworten darauf ausweichend. Schreiben ist per se eine wenig glamouröse und, ja, auch einsame Arbeit. Sie verlangt Disziplin und Beharrlichkeit. „Qualität kommt von Qual." lautet der berühmte Satz.
Der österreichische Autor Robert Seethaler gibt eine andere, verblüffende Antwort. Er sagt:
„Ich bin ein bildhafter Mensch. Ich sehe schlecht und bin mehrfach an beiden Augen operiert. Genau deswegen habe ich schon als kleines Kind meine Bildwelt entwickelt. Ich denke weniger als man gemeinhin annehmen sollte. Ich schreibe intuitiv und folge den Bildern. Folge deinem Interesse und folge deinen Bildern.“
Eine gelinde Untertreibung. Seethalers Seebehinderung war mit minus 17 Dioptrien so ausgeprägt, dass er zunächst eine Schule für Blinde und Sehbehinderte besuchte. Aber dies allein ist vielleicht keine ausreichende Erklärung für die präzise, geradlinige Sprache, in der seine Romane große Bilder und Gefühle transportieren. Seine Figuren erscheinen lebensecht und die Handlung verläuft wie ein Film vor unserem inneren Auge. Denn Robert Seethaler hat ein untrügliches Gespür für szenische Wirkung. Schließlich kann er auch auf lange Erfahrung als Schauspieler zurückblicken.
Doch derzeit ist Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, wohnhaft in Berlin-Neukölln, vor allem Bestsellerautor. Seine Bücher sind Schulstoff im deutschsprachigen Raum. „Was für ein wunderbarer Autor, der uns so tief bewegen kann“, schreibt Elke Heidenreich. Iris Radisch nennt ihn in der ZEIT einen „Meister des unheroischen Erzählens“, seine „Prosa großer Einfachheit und karger Schönheit“ komme „nach Art des ehrlichen deutschen Roggenbrots ohne künstliche Treibmittel und Aromastoffe aus.“ Und Cathrin Kahlweit, Süddeutsche Zeitung, kann sich in Seethalers Prosa „lesend hineinbegeben wie in einen langen Tag auf einer menschenleeren Alm.“
„Ich bin nicht der große strukturelle Erzähler, der einen Plot aufbaut oder ganze Geschichtsarchitekturen entwirft“, sagt er im Interview mit dem rbb.
„Es geht mir wirklich um den Augenblick. Was bleibt von deinem Leben? Was bleibt von meinem Leben? Ich nehme von mir an, ohne es zu wissen, dass auch bei mir die Erinnerung an Augenblicke bleiben wird. Gefühlserinnerungen.“
„Ein ganzes Leben“, Seethalers fünfter Roman, wurde in 40 Sprachen übersetzt und nun ebenso verfilmt wie sein Vorgänger „Der Trafikant“. Seethalers Bücher finden ein Millionenpublikum, über ihn selbst weiß man kaum etwas. Was er in seinen wenigen Interviews preisgibt, erinnert an seine Romanfiguren. Aufgewachsen ist Seethaler in Favoriten, dem 10. Wiener Bezirk. Seine Großmutter, Tellerwäscherin, und sein Großvater, Asphaltierer, waren nach dem 2. Weltkrieg Vertriebene. Seine Eltern, auch hier nennt er die Berufe: Vater Schlosser, Mutter Sekretärin. Der 10. ist ein Arbeiterbezirk, und aus dieser Perspektive entwickelt Seethaler auch viele seiner Figuren: Geschichten von einfachen Leuten, keine Popstars, aber Heldinnen und Helden ihrer eigenen Art.
„Randständige Menschen“, sagt Seethaler. „Nur die interessieren mich tatsächlich. Menschen, die sich am Rande bewegen, bewegen sich an einer Grenze und sind gegebenenfalls auch fähig, diese Grenze zu erweitern oder gar zu übertreten. Die Menschen, die ich versuche zu beschreiben oder zu erschreiben, die genügen sich erstmal noch nicht. Aber sie kämpfen ganz schön, sie kämpfen ums reine Überleben.“
Seethalers Erzählungen werden immer dann besonders ergreifend, wenn wir zusehen, wie Zeiten und Naturgewalten über seine Figuren hinwegfegen, wie sie ihrem Schicksal trotzen, sich mit unbeugsamer Würde den Staub aus der Jacke klopfen und weiter ihren Weg gehen. So wie Andreas Egger, dessen „ganzes Leben“ in der überwältigenden Berglandschaft wir über acht Jahrzehnte verfolgen. Drei Darsteller braucht es dafür.
An seine Figuren will Seethaler „sich heranfühlen“. Er schaut sie nicht an wie durch ein Vergrößerungsglas; er weiß, wie sie sprechen, lieben, atmen. Und wie bei vielen großen Stilisten spüren wir, dass Seethaler seine makellosen Sätze nicht einfach hinwirft, sondern sie immer weiter schleift, bis alles Überflüssige abgetragen ist. Einen solch schüchternen, kurzen und zugleich doch innigen Heiratsantrag wie in ein „Ein ganzes Leben“ wird man in der Literatur- und Filmgeschichte lange suchen:
„Ich möcht‘…“
„Ja.“
„Komm.“
Und dann wäre da noch die eingangs erwähnte Schauspiellaufbahn. In seinem ersten Berufsleben besuchte Seethaler die Schauspielschule im Wiener Volkstheater und spielte danach in zahlreichen Inszenierungen sowie Produktionen für Kino und Fernsehen. Rückblickend sagte er:
„Als junger Mann wollte ich zu schnell ans Theater, ich habe mich ungeschützt ins Rampenlicht gestellt. Es gab quälende Momente dort oben auf der Bühne, im grellen Licht, den Blicken der anderen ausgesetzt, habe ich mich geschämt. Doch in der Rückschau war selbst das gut, es hat mich zu dem Weg geführt, auf dem ich mich jetzt befinde.“
Sein zweites Berufsleben entdeckte Robert Seethaler wohl in der Drehbuchwerkstatt München, wo sein Debüt 2004, später zu einem Roman umgearbeitet, den Beginn seiner Schriftstellerkarriere markierte. Lange Zeit verfolgte er beide parallel, sodass sogar die New York Times anlässlich von Seethalers Auftritt in Paolo Sorrentinos Film EWIGE JUGEND feststellte: „Der aus Österreich stammende Berliner mag wie ein europäischer Charakterdarsteller aufscheinen, aber er verbringt die meiste Zeit schreibend.“ Der von ihm gespielte Bergführer findet immerhin Gelegenheit für ein paar wundersame Szenen mit einer schüchtern-verstockt angehimmelten Rachel Weisz.
Spricht es nicht Bände über seinen Arbeitsethos, dass er bis 2015 acht Jahre lang den Rechtsmediziner Dr. Kneissler in der ZDF-Serie EIN STARKES TEAM verkörperte, obwohl auf seinen Büchern bereits das „Bestseller“-Label klebte? Ein bescheidener, beharrlicher, unbeirrbarer Arbeiter. Vielleicht ähnelt Robert Seethaler auch darin einigen seiner Romanfiguren.
Dem Stern sagte er: „Das Schreiben ist für mich, als würde ich dem Schweigen Worte abringen. Die Grundstimmung meines Lebens ist die Sehnsucht nach Stille.“ Eine Sehnsucht, die in unserer Zeit der überreizten Meinungen viele Leser:innen und Zuschauer:innen teilen.
EIN GANZES LEBEN - Jetzt im Kino!
Autor/-in: A. Smithee